Die Rassisten sind unter uns

Bei einem Konzertbesuch an meiner eigenen Universität erfuhren mein Mann und ich Ausgrenzung seitens anderer, rassistischer Zuhörer. Die Tatsache, dass dies passieren konnte, hatte auch etwas mit der Programmauswahl zu tun.

Am vergangenen Samstag besuchte ich mit meinem Ehemann das Eröffnungskonzert des Festivals "crescendo" der Universität der Künste Berlin, einer Institution, der ich seit 2017 als Lehrbeauftragter für Musiktheorie verbunden bin. Seit bei mir Mitte 2022 Krebs diagnostiziert wurde und ich mich in kontinuierlicher medizinischer Behandlung befinde, gehe ich bzw. gehen wir nicht mehr oft in Konzerte. Meine deutlich reduzierte Energie hebe ich mir seitdem eher für Freunde, Familie, meine Genesung sowie meine reduzierte, aber konstante Hochschullehrtätigkeit auf.

Da es mir aktuell gesundheitlich wieder gut genug geht, entschloss ich mich für einen Konzertbesuch, auch weil im Orchester zahlreiche meiner aktuellen und ehemaligen Studierenden spielten. Bei Ankunft war meine erste Priorität, sicherzustellen, dass ich meinen kleinen Rucksack, in dem ich Medikamente und von mir kontinuierlich bereit zu haltende Flüssigkeit mitführe, mit in den Saal nehmen kann, da dies aufgrund von Sicherheitsbedenken generell nicht gestattet ist. Die Möglichkeit von Ausnahmen wurde auf Ankündigungen nicht erwähnt, was unter dem Gesichtspunkt der Behindertenfreundlichkeit mindestens nicht unproblematisch ist.

Leider fiel mir erst spät auf, dass mein Mann, der eine dunklere Hautfarbe hat, seitens anderer Mitglieder des Publikums sofort und kontinuierlich penetranten Blicken ausgesetzt war. Als wir im Saal wiederholt aufstehen mussten, um andere Publikumsmitglieder vorbeizulassen, wurde mein Mann meist nicht beachtet und nur mir ein Dankeschön ausgesprochen. Beides – abwertende Blicke und Nichtbeachtung ihm gegenüber, wo mir als weißem Mann Beachtung zuteil wurde – stellen eindeutig Mikroaggressionen dar.

Laut Critical Diversity Glossar der Universität der Künste (hier) bezeichnet Mikroaggression „einzelne Kommentare oder Handlungen, die unbewusst oder bewusst Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Mitgliedern von Randgruppen zum Ausdruck bringen.“

Um klarzustellen: mein Mann trug eine schwarze Hose und ein Polohemd, die Blicke können also einzig und allein durch seine dunklere Hautfarbe bzw. ethnischer Zuordnung durch rassistische Publikumsmitglieder erklärt werden. Besonders deutlich wurde uns dies, als uns eine einzige weitere erwachsene dunkelhäutige Person auffiel, die mit ihrem Kind ein paar Reihen weiter vorne saß und ebenso ständig rassistischen Blicken seitens alter weißer Publikumsmitglieder ausgesetzt schien.

Die Amadeu Antonio Stiftung definiert Rassismus (hier) als „eine Ideologie, die Menschen aufgrund ihres Äußeren, ihres Namens, ihrer (vermeintlichen) Kultur, Herkunft oder Religion abwertet. In Deutschland betrifft das nicht-weiße Menschen – jene, die als nicht-deutsch, also vermeintlich nicht wirklich zugehörig angesehen werden. Wenn Menschen nicht nach ihren individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften oder danach, wassie persönlich tun, sondern als Teil einer vermeintlich homogenen Gruppe beurteilt und abgewertet werden, dann ist das Rassismus. […] Rassismus drückt sich nicht nur in physischer Gewalt aus, sondern zuerst in Gedanken, Worten und Handlungen. […] Rassismus passt eigentlich nicht ins Weltbild einer toleranten, modernen Gesellschaft. Und trotzdem ist er allgegenwärtig. Für viele Menschen in Deutschland, die als nicht »deutsch genug« angesehen werden, ist er immer noch trauriger Alltag. Sie werden als »nicht normal« oder als »anders« ausgegrenzt.“

Beethoven nicht verstanden

Auf dem Programm des Abends stand Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie, die am 7. Mai 1824, also vor fast genau 200 Jahren, uraufgeführt worden war. Unmittelbar davor wurde, ohne Pause zum Beethoven, ein 2021 komponiertes Stück für Sopran und Orchester von Udi Perlman mit dem Titel „Vehigianu“ gespielt. Es geht mir hier nicht darum, die engagierte und gelungene Aufführung zu rezensieren, für die meine Studierenden hart und mit vollem Einsatz geprobt haben. Leider wurde die Aufführung für mich und meinen Ehemann durch die negative, zutiefst verletzende Erfahrung des Konzertbesuchs überschattet und ich komme nicht umhin, hier einen Zusammenhang mit der Wahl des Programms zu sehen. Dafür muss ich zunächst etwas ausholen.

Wie vielleicht den meisten bekannt ist, gibt es ein Problem mit dem Konzertpublikum sogenannter klassischer Musik: das Durchschnittsalter ist meist sehr hoch, um oder über dem Renteneintrittsalter, und das Publikum ist fast ausschließlich weiß. Obwohl sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert hat, nicht zuletzt in Hinblick auf ihre ethnische und kulturelle Diversität, ist das Konzertpublikum in seiner Zusammensetzung erschreckend gleich geblieben, was ähnlich auch in anderen Ländern wie den USA konstatiert wird.

Das bedeutet, dass das finanziell eher starke alte Kernpublikum langsam wegstirbt und immer weniger jüngere Menschen Interesse an dieser Form der Musikerfahrung entwickeln können. Das muss nicht grundsätzlich bedauerlich sein, aber es stellt Musiker*innen und Institutionen wie die UdK vor große und immer größer werdende Herausforderungen. Sicherlich gibt es verschiedene Ursachen, ich werde mich aber auf das Rassismusproblem konzentrieren.

Genauso wie die AfD nur die Spitze eines viel weiterreichenden rassistischen Konsens hierzulande ist, sind auch Mikroaggressionen wie abwertende Blicke nur die Spitze des Eisbergs, den das rassistische oder zumindest rassistisch unterwanderte Konzertpublikum bildet. Und eben jenes Konzertpublikum, das anders aussehende Menschen ausschließt – sei es durch aktive Handlungen wie abwertende Blicke oder durch Unterlassung bzw. Leugnung eines Problems – arbeitet aktiv daran mit, dass sich das Publikum eben nicht erneuern kann. Man möchte lieber „unter sich“ bleiben. Diese Problematik ist auch von der League of American Orchestras erkannt worden. Auch wenn der rassistische Anteil im Publikum weniger als die Hälfte darstellen sollte (sicher bin ich mir dabei aber leider nicht), ist das Verhalten dieses Teils derart schädigend, dass darüber nachgedacht werden sollte, wie man solche Menschen lieber fernhält oder zumindest unmissverständlich klarmacht, dass ihr ekelhaftes Verhalten nicht toleriert wird.

Es wirkte beinahe bemitleidenswert, dass Norbert Palz, der Präsident der UdK, zum Schluss seiner Begrüßungsrede Spenden vom Publikum erbat. Trotz der sich nur noch verschärfenden Finanzierungslage der Künste hätte er vielleicht besser gesagt: „Spenden Sie bitte nicht, wenn Sie Werte wie Menschlichkeit und Diversität nicht teilen, denn euer schmutziges Geld möchten und brauchen wir nicht!“

Das weiße, rassistische Publikum ist nämlich wie ein Krebsgeschwür, das behandelt werden muss. Die Chemotherapie, mit der meine eigene Krebserkrankung bekämpft wird, zerstört die Krebszellen, eine notwendige Zerstörung, die gesundes Zellwachstum erst wieder ermöglicht. Genauso sollte das weiße, rassistische Publikum, das in den nächsten Jahren sowieso wegstirbt, besser von klassischen Konzerten ferngehalten werden, damit sich Menschen, die von diesen Rassisten sonst abgehalten werden, überhaupt dorthin trauen und einen einladenden Ort auffinden.

Hier kommt die Programmierung ins Spiel: es gab im Programm leider nichts, was die Rassisten irritiert hätte. Dass das kurze Eingangsstück eines israelischen Komponisten ein hebräisches Gebet vertonte, reicht in diesem Zusammenhang leider kaum. Die humanistische, an alle Menschen gleichermaßen gerichtete Aussage des Schiller’schen Textes und Beethovens Vertonung wurde nicht wirklich verstanden. Die 9. Sinfonie konnte ja aber auch schon von den Nazis problemlos vereinnahmt und gespielt werden, deren Ideologie in ebenso eklatantem Widerspruch zur eigentlichen Aussage der Musik und des Textes stand.

Gerade deshalb bedarf es einer Programmauswahl, die irritiert, kontextualisiert, in Frage stellt. Das habe ich leider komplett vermisst, sodass ich nicht nur unbefriedigt nach Hause ging, sondern mit dem Entschluss, solche Konzerte zukünftig zu meiden und damit den Rassisten zu überlassen, anstatt weiter Teil des Problems zu sein. Mein Mann, der als erfolgreicher RnB-Sänger seine Musikerkarriere an den Nagel hing und erst durch mich Interesse am klassischen Repertoire entwickelte, braucht sich diesen Rassisten nicht anzubiedern, hat aber auch ein Recht darauf, sich bei Konzertbesuchen wohl und nicht ausgegrenzt zu fühlen. Auch deshalb werde ich auf absehbare Zeit keine vergleichbaren Konzerte mehr besuchen, auch nicht an der UdK, meiner eigenen Institution, so lange ich mir nicht relativ sicher sein kann, dass nicht nur ich, sondern auch mein Mann und andere, auch dunkelhäutige People of Color dort willkommen wären.

Totengräber des klassischen Repertoires

Dies ist auch Ausdruck meiner Weigerung, Totengräber dieses Repertoires zu sein. Totengräber sind diejenigen, die kein Problem damit sehen, weiter solche Konzertprogramme zu präsentieren und damit langfristig Konzertsäle zu Archiven verkommen zu lassen, Archive, in denen Musik nur noch aufbewahrt und nicht mehr als lebendige Kunst zelebriert wird.

Ich möchte zum Schluss aber auch klarstellen, warum ich so offen darüber schreibe. Es geht mir nicht darum, die UdK als Institution oder einzelne Protagonist*innen bloßzustellen. Ich schätze die UdK als eine Institution ein, an der es (noch) eine wirkliche Chance gibt, Dinge zum Besseren zu bewegen und unsere Branche zukunftsträchtig zu machen. Wir sollten diejenigen unterstützen, die daran bereits arbeiten, gegen die Betonköpfe, die lieber nichts ändern wollen und daher in Wirklichkeit die Totengräber der Branche sind.

Am selben Wochenende (aber mit besagtem Konzert nicht überlappend) fand z.B. ein von Studierenden des Tonmeisterstudienganges organisierter Workshop zur indischen klassischen Musikstatt. Für den 14. Juni ist ein Workshop über iranische Kunstmusik und das Modalsystem Dastgah geplant, organisiert von meiner Musiktheorie-Kollegin Sarvenaz Safari. Auch gibt es im Rahmen des „crescendo“-Festivals bessere Konzertprogramme, wie etwa das der Reihe „Musica inaudita“. Bezeichnenderweise findet dies aber an einem Wochentag in der Mitte des Festivals statt. Eröffnungskonzert und selbst das Abschlusskonzert bieten ein nachwievor konventionelles Programm, sind also gewissermaßen von den interessanteren, inden Hintergrund geschobenen Konzertabenden segregiert.

Klar muss man Beethoven nicht hören. Aber wollen wir denn, dass jüngeren, offeneren Menschen der Zugang erschwert wird? Hilft es wirklich, ein paar Konzerte ins Programm aufzunehmen, in denen alles weniger konventionelle eingeplant wird, damit das „Kernpublikum“ sein „Kernrepertoire“ immer noch unbefleckt genießen kann? Und wollen wir so weiterhin die Erneuerung und Verjüngung des Publikums verhindern, anstatt sie aktiv zufördern?

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