Transkulturelle Musiktheorie: Ideen, Chancen, Herausforderungen

Ich freue mich sehr auf das von mir initiierte Vortragspanel zu transkultureller Musiktheorie, das am 6. Oktober 2024 im Rahmen des diesjährigen Kongresses der Gesellschaft für Musiktheorie an der BTU Cottbus-Senftenberg stattfinden wird.

Das von Prof. Dr. Reinhard Schäfertöns (Universität der Künste Berlin) moderierte Vortragspanel beginnt um 11:20 Uhr zunächst mit vier Impulsvorträgen, die schließlich in einen Roundtable münden.

Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto, emeritierter Professor und ehemaliger Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Transcultural Music Studies an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, führt in die keinesfalls deckungsgleichen Konzepte der Transkulturation und der Transkulturalität ein und stellt Erfahrungen aus den Weimarer Transcultural Music Studies vor, die für die Musiktheorie, aber auch für Musikpädagogik und Komposition relevant sind. Prof. Dr. Ivan Vilela, der gerade aus São Paulo zu Besuch ist, wird den Vortrag mit mehreren kurzen, auf der brasilianischen Viola caipira vorgetragenen Musikbeispielen untermalen.

Dr. Sarvenaz Safari, die Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin und an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig lehrt, thematisiert vor dem Hintergrund Ihres eigenen kompositorischen Schaffens die transkulturelle Relevanz von Verzierung / Ornamentation in aktueller Musik.

Ehsan Mohagheghi-Fard, Kollege von Prof. Dr. de Oliveira Pinto an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, berichtet von seinen Erfahrungen, Musik verschiedener Kulturen bzw. Weltregionen in traditionelle, an deutschen Musikhochschulen unterrichtete Fächer wie Höranalyse, Musiktheorie und Gehörbildung einzubeziehen.

In meinem eigenen Impulsvortrag zeige ich am Beispiel ostinater Akkordfolgen in südafrikanischer Popmusik auf, welchen Gewinn die Thematisierung von Musik anderer Weltregionen und deren historischen und kulturellen Kontextes für den Musiktheorieunterricht an einer deutschen Musikhochschule haben kann, auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der historischen Verantwortung Deutschlands und anderer europäischer Kolonialmächte.

Um die Bedeutung und Relevanz des Begriffes „transkulturell“ für eine zukunftsgewandte Musiktheorie aufzuzeigen, gebe ich im Folgenden eine Langfassung des Panel-Abstracts sowie des Abstracts meines Impulsvortrags wieder:

Gibt es neben dem „historic turn“ und dem „cultural turn“ auch einen „transcultural turn“, um den komplexen Verflechtungen unserer globalisierten (Musik-)Welt gerechter zu werden? Anknüpfend an Theorien von Fernando Ortiz und Wolfgang Welsch möchten wir transkulturelle Musiktheorie als Chance begreifen, historische oder auch kulturspezifische Phänomene nicht vorrangig isoliert zu betrachten, sondern auf das Gemeinsame, Verbindende zu schauen, so wie es auch Kofi Agawu 2022 in der ersten GMTH International Music Theory Lecture anregte (siehe HIER, sowie Agawu 2016).

Insbesondere zu einer Zeit, zu der wieder vermehrt Abgrenzungsversuche zwischen vermeintlich inkompatiblen Kulturen unternommen werden, diese Versuche sich aber zunehmend im Widerspruch zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen bewegen, wird das Verständnis der Vielschichtigkeit individueller soziokultureller Zugehörigkeitsgefühle und Praktiken immer wichtiger. Als Beispiel seien die 2021 in Deutschland erfassten 22,3 Millionen „Menschen mit Migrationshintergrund“ genannt, von denen 49% „zu Hause sowohl Deutsch als auch (mindestens) eine weitere Sprache“ sprechen (der Bericht kann HIER eingesehen werden).

Gerade in der Lehrendenausbildung wird die zunehmende Internationalisierung und Diversifizierung der Lehre und des behandelten Repertoires, allein aufgrund der immer diverseren soziokulturellen Hintergründe der aktuellen und zukünftigen Schüler*innenschaft, zusehends unverzichtbar. Die Auseinandersetzung mit Musik verschiedener Weltregionen und ihrer mannigfaltigen Überlappungen bereichert letztlich auch unser Verständnis, und das unserer Studierenden, für das jeweils „eigene“ (Kern)repertoire und mag, in Anlehnung an Alexander von Humboldts „Methode des weltweitenVergleichens und In-Beziehung-Setzens“, gleichzeitig zu einer „selbstkritischen Hinterfragung eigener, kulturell geprägter Forschungsansätze im Kontext jeweils spezifischer Kulturen des Wissens“ führen (Ette 2009, S. 15).

Stephan Schönlau: Musik als „gefrorene Zeit“? Ostinate Akkordfolgen in südafrikanischer Popmusik und deren transkulturelle Bezüge

In der RATM-Sonderausgabe Can we talk of a passacaglia principle? schreibt Susanna Pasticci etwas pointiert, die europäische Musik sei von zwei grundlegenden strukturellen Prinzipien geprägt: des Sonatenprinzips und des Ostinatoprinzips (Pasticci 2014, S. 13f.). Obwohl die sich oftmals auf die drei Hauptfunktionen der Dur-Moll-Tonalität beschränkenden ostinaten Akkordfolgen, die vielen südafrikanischen Songs zugrunde liegen, ihren Ursprung zweifelsohn ein der Verbreitung christlicher Religion und Musik (auch durch deutsche Missionare) sowie dem damit vermittelten Kulturimperialismus haben (vgl. Agawu 2006), zeugt deren anhaltende Verwendung auch von einer Widerständigkeit, die sich in der Verbindung von „europäischer“ Harmonik und „afrikanischen“ strukturellen Prinzipien zeigt, einer Verbindung, die letztlich der Apartheidsdoktrin der „separate development“ zuwider lief. Eine Analyse und Thematisierung dieses Repertoires unter Berücksichtigung des geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Entstehungskontextes erlaubt es auch uns Lehrenden an europäischen Musikhochschulen, uns mit der eigenen Kolonialgeschichte und der damit verbundenen Verantwortung auseinanderzusetzen und dieses Bewusstsein an Studierende weiterzugeben.

Bildnachweis: Olga Ernst, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Zitierte Literatur

Agawu, Kofi (2006): „Tonality as a Colonizing Force in Africa“, in Ronald Radano & Tejumola Olaniyan (Hg.), Audible Emire: Music, Global Politics, Critique (Durham, NC), S. 334–355.

Agawu, Kofi (2016): The African Imagination in Music (Oxford).

Benessaieh, Afef (2010): „Multiculturalism, Interculturality, Transculturality“, in dieselbe (Hg.): Amériques transculturelles – Transcultural Americas (Ottawa), S. 11–38.

Ette, Ottmar (2009): Alexander von Humboldt und die Globalisierung (Frankfurt am Main).

Pasticci, Susanna (2014): „In search of a passacaglia principle“, in Can we talk of a passacaglia principle? Si può parlare di un principio-passacaglia? (=Rivista di Analisi e Teoria Musicale, 10), S. 7–15.

Welsch, Wolfgang (1999): „Transculturality – The Puzzling Form of Cultures Today“, in Mike Fetherstone & Scott Lash (Hg.): Spaces of Culture – City, Nation, World (London), S. 194–213.

Welsch, Wolfgang (2009): „Was ist eigentlich Transkulturalität?“ in Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg & Claudia Machold (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Differenz (Bielefeld), S. 39–66.

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